von Jon Michael Winkler
Wie letztes Jahr trafen wir uns wieder in Ulms idyllischem Ortsteil Grimmelfingen, im Gemeindezentrum St. Jakob. 33 Praktiker:innen hatten sich angesagt. Auffällig an der Runde war die erfreulich große Zahl von acht männlichen Praktikern, die somit ein Viertel der Anwesenden stellten.
Kurz nach 11:30 h eröffnete Thomas Neymeyer mit wenigen, einleitenden Worten zum Ablauf das Treffen, honoriert mit Danksagungen und großem Applaus von den Teilnehmenden für die organisatorische Leistung hinter der Veranstaltung unser Treffen. Beim folgenden Mittagessen bot sich die erste Gelegenheit des Austausches, der nach einer rasch verflogenen Stunde in die Vorstellungsrunde im Plenum mündete. Wieder gab es berührende und bewegende Geschichten, wie jede*r Einzelne zum Jin Shin Jyutsu gekommen war und in welcher Form er/sie es wieder in die Welt hinaustrug. Denn jenseits der Anwendungen in einer Praxis, findet es seinen Weg auch in pädagogische Institutionen, Krankenhäuser, Heime und Hospize und öffentliche Vorträge. (Gisela Pyka durfte inzwischen sogar mit viel Erfolg bei der Polizei einen Workshop zu JSJ machen).
Heiltraditionen in Japan
Im Anschluss führte uns Toshiko Schmidt etwa eine Stunde lang durch ein weitgehend unbekanntes Japan und seine Epochen, speziell in Hinsicht auf seine Heiltraditionen. Schon im 6. Jahrhundert gab es ein staatliches Gesundheitswesen, in dem nach dem Vorbild der chinesischen Medizin praktiziert wurde. Im 16. Jahrhundert hielt durch die Handelsbeziehungen mit den Niederlanden die westliche Medizin Einzug. Ab 1870 wurde Medizin nach deutschem Vorbild gelehrt, sogar in deutscher Sprache! Ein Jahr später wurden die Akupunkturschulen geschlossen und blieben es bis 1946, als die Akupunktur wieder legalisiert wurde. Erst 1976 wurde Heilpflanzenkunde der „Campo-Medizin“ im Gesundheitssystem rehabilitiert, wie andere Verfahren, z.B. Moxtibustion, Shiatsu und andere auch. Diese historischen Hintergründe erklären auch, warum Jin Shin Jyutsu auch im heutigen Japan noch eher eine Angelegenheit von Spezialistenkreisen ist, als von einer größeren Gruppe Interessierter, wie in Deutschland oder anderen westlichen Ländern.
Präsens im gegenwärtigen Augenblick
Nach verdientem Applaus für Toshiko und einer kleinen Kaffeepause leitete Thomas Neymeyer sehr spannende Spürübungen an, um an einen wesentlichen Aspekt des Strömens zu erinnern: Die Präsenz im gegenwärtigen Augenblick, das bewusste Atmen, die Erdung, die Sensibilisierung und Schärfung der Sinne, um letztlich in voller Achtsamkeit das „Nicht-Tun“ zu üben und einfach Kanal für die universelle Lebensenergie sein zu können. Eine Stunde gemeinsamen Übens führte wie von selbst zum Strömen an den Liegen in Dreiergruppen.
Themengruppen
Nach dem gemeinsamen Abendessen ging es ins Abendprogramm. Aus den zur Auswahl gestandenen vier Themen zur Gruppenarbeit bildeten sich schließlich zwei große Gruppen heraus: Michael Döhlemann hatte die Frage aufgeworfen, ob es bei der Anwendung von Jin Shin Jyutsu nicht eine einfache „Drei-Punkte-Lösung“ gäbe, die es einem erlauben würde, zuverlässig und effektiv einen sofort spürbaren Heilungserfolg oder zumindest unleugbaren Fortschritt zu generieren. Hier beteiligten sich rund ein Drittel der Teilnehmenden an einem sehr spannenden Austausch. Die zweite Gruppe, geleitet von Heidi Mornhinweg (die selbst in der Trauerbegleitung und als Trauerrednerin arbeitet), beschäftigte sich mit dem Thema: Jin Shin Jyutsu und die Begleitung bei kritischen Etiketten (z.B. Krebs) bis hin zur Begleitung im Hospiz. Ein Thema, für das ich mich aufgrund zweier aktueller Fälle in meiner Praxis entschied. Seinen Ernst und seine Bedrohlichkeit verlor es aber rasch im persönlichen Austausch mit den übrigen Praktikant:innen. Es offenbarten sich viele versöhnliche Aspekte, die sich in einer sehr warmherzigen Stimmung zum Schluss niederschlug.
Körperlesen – Pulsefühlen
Den zweiten Tag eröffnete Anja Bettina Hell mit ihren Betrachtungen und Demonstrationen an Freiwilligen zum Thema „Körper lesen, Pulse hören und Ströme aussuchen“. Sie erinnerte uns mit einer Übung des Wechsels zwischen dem peripheren, aber verschwommenen Blicks der Gesamtheit des Raumes und dem konzentriert fixierten, scharfen Blick auf ein Detail an die unterschiedlichen möglichen Sichtweisen und warum sie für die Wahrnehmung der Klienten und ihrer Befindlichkeiten so bedeutsam sind. Auch das Körperlesen profitiert davon: Erst der spontane Gesamteindruck des Menschen und seiner Lage auf der Liege, dann die Wahrnehmung der Details an Beinen und Zehen, Armen und Fingern, die Lage der Sicherheitsenergieschlösser 13, 14, 15 zueinander und die anschließende Rückkehr zum „unscharfen“ Gesamtbild. Die Pulse verraten dann wieder mehr Details, wobei das Lauschen derselben eine echte Kunst ist, welche es ständig zu üben und weiterzuentwickeln gilt. Auch hier waren die praktischen Hinweise Anja Bettinas sehr hilfreich und horizonterweiternd. So z.B. dass es sich bei der Wahl der Ströme empfiehlt, nicht nur die Blockaden wahrzunehmen und herauszufinden, sondern ihren Ursachen auf einer noch tieferen Ebene auf die Spur zu kommen. So mag eine Stauung an der 14 den Hinweis auf eine blockierte 15 geben, ein Puls der Gallenblasenfunktion den Hinweis auf eine Leber, die ihre Arbeit nicht richtig macht. Oder beim Pulselauschen auch auf den Puls zu achten, den man eben nicht hört…
2. Strömrunde
Dann war es nach fast drei Stunden Zeit für ein entspanntes Mittagessen. Anschließend hatte wir bei der nächsten Strömrunde Zeit und Gelegenheit, das vom Vormittag Erlernte in die Praxis umzusetzen. Wie schon am Vortag breiteten sich schnell meditative Entspannung und Stille aus, einzig unterbrochen durch die Glocken der gegenüberliegenden Kirche von St. Jakob, die schon bald die Schlussworte von Thomas Neymeyer einläuteten und den nochmaligen Applaus für eine sehr gelungene Veranstaltung, von der ich mir, wie wohl alle anderen auch, wieder sehr viele fachliche Anregungen und die Erinnerung an bereichernde zwischenmenschliche Begegnungen in meinen Alltag zu Hause mitnehmen konnte.